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March 25, 2022

Real World Evidence und das Potenzial für Zulassung und Vergütung von Arzneimitteln

“Evidenz, die durch qualitativ hochwertige Beobachtungsstudien gewonnen wird, ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln, die von Patienten und Ärzten täglich verwendet werden”.

Globaler Workshop zur Regulierung von COVID-19 RWE und Beobachtungsstudien, Juli 2020.

Die Rolle von Real World Evidence

Real World Evidence (RWE) zieht zunehmende Aufmerksamkeit – doch was genau verbirgt sich dahinter? Eine genaue Definition, die 2007 von der ISPOR Real-World Data Task Force festgestellt wurde lautet: RWE ist Evidenz aus “Daten, die für die Entscheidungsfindung verwendet werden und nicht in konventionellen RCTs erhoben werden” 1. RWE kann dementsprechend aus Real World Daten abgeleitet werden, die in prospektiven oder retrospektiven Datenerhebungen von Patient:innen, Pflegepersonal oder Mitarbeitern des Gesundheitswesens erhoben werden. Die Daten stammen also aus einer Vielzahl von Quellen, wie z.B. kontrollierte Studien, Register, Verwaltungsdaten, Gesundheitsumfragen oder elektronische Gesundheitsakten sein.

RWE ist für viele Bereiche eines Gesundheitswesens interessant: RWE kann z. B. vor oder nach der Zulassung eines Medikaments eine Rolle spielen: Vor der Zulassung  dadurch die Identifizierung von Patient:innen aus bestimmten Teilpopulationen die Effektivität von RCTs erhöhen, was möglicherweise zu kürzeren und effektiveren Studien führen kann. Nach der Zulassung spielt RWE eine Rolle bei der Analyse von Ergebnissen unter realen Bedingungen, um weitere Erkenntnisse über die Sicherheit und Wirksamkeit neuer Produkte zu gewinnen. Zudem entsteht so ein Verständnis für die Auswirkungen, Abläufe und Dauer einer erforderlichen Behandlung sowie für die erforderlichen Ressourcen und für bestimmte Krankheitsprozesse.

Der rechtliche Rahmen in der EU

Trotz des großen Potenzials: Es gibt derzeit in der EU keinen etablierten Rechtsrahmen für die Verwendung von RWE bei der regulatorischen oder klinischen Entscheidungsfindung, und es sind nur wenige Leitlinien verfügbar 2. In Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe i der Richtlinie 2001/81/EG heißt es, dass der Antragsteller für eine Genehmigung für das Inverkehrbringen “die Ergebnisse von pharmazeutischen, vorklinischen und klinischen Prüfungen” vorlegen sollte. RWE oder nicht-interventionelle/beobachtende Studien werden nicht explizit erwähnt, fallen jedoch im Hinblick auf ihre Rechtmäßigkeit unter diese Oberkategorie.

Ein Multi-Stakeholder-EU-Lernnetzwerk zu RWE

Es ist allerdings Einiges in Bewegung: Die HMA und die EMA haben zum Beispiel Erfordernisse für die Nutzung von Big Data definiert und stellen fest, dass für die mögliche Nutzung im Gesundheitswesen iterative Ansätze mit den relevanten Interessengruppen erforderlich sind. 

Solche Ansätze unterstützen: 

  • die Standardisierung von Daten
  • die Verbesserung der Datenqualität
  • die Förderung der gemeinsamen Nutzung von und des Zugangs zu Daten

Dadurch ist auch festgestellt: Eine robuste Datenverarbeitung und -analyse, die RWE gewinnen können, die regulatorisch akzeptabel sind, sind möglich 3.

Zur Entwicklung dieser Bemühungen wurden zehn Empfehlungen ausgesprochen. Darunter fällt zuvorderst die Bereitstellung einer nachhaltigen, grenzüberschreitenden Datenaustauschplattform für den Zugang zu und die Analyse von Gesundheitsdaten aus der gesamten EU über das Data Analysis and Real World Interrogation Network (DARWIN) 3.  Ein weiterer Vorschalg umfasst die Einrichtung eines EU-Big-Data-“Stakeholder-Implementierungsforums”, um eine Quelle für Schlüsselbotschaften und Kommunikationsmaterialien zu Regulierung und Big Data aufzubauen 4.

So wird die DARWIN-Initiative RWE-Daten aus ganz Europa über Krankheiten, Bevölkerungsgruppen und die Verwendung und Leistung von Arzneimitteln liefern. Dadurch können die EMA und die zuständigen nationalen Behörden für die Arzneimittelzulassung diese Daten bei Bedarf während des gesamten Lebenszyklus eines Arzneimittels nutzen.

DARWIN EU wird dabei die Entscheidungsfindung der Regulierungsbehörden durch verschiedene Punkte unterstützen: 

  • Aufbau und Erweiterung eines Katalogs von Quellen für Beobachtungsdaten zur Verwendung in der Arzneimittelregulierung
  • Bereitstellung einer Quelle hochwertiger, validierter Daten aus der Praxis über die Verwendung, Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln
  • Behandlung spezifischer Fragen durch die Durchführung hochwertiger, nicht-interventioneller Studien, einschließlich der Entwicklung wissenschaftlicher Protokolle, der Abfrage relevanter Datenquellen sowie der Interpretation und Berichterstattung.

Besonders Organisationen wie das European Centre for Disease Prevention and Control und Kostenträger sollen DARWIN EU längerfristig nutzen können; der volle Betrieb soll bis 2024 aufgenommen werden 5.

Beispiel Vereinigtes Königreich

Im Vereinigten Königreich ist ebenfalls vieles in Bewegung: Die britische Regulierungsbehörde für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte (Medicines and Healthcare products Regulatory Agency, MHRA) hat einen Leitfaden für RTCs herausgegeben, die RWE generieren und zur Unterstützung von Regulierungsentscheidungen verwendet werden. Die MHRA hat zudem ab Januar 2021 einen neuen Zulassungspfad für innovative Arzneimittel geschaffen, der aus einem “adaptiven Zulassungspfad” besteht. Dieser umfasst RWE, eine kontinuierliche Risiko-Nutzen-Bewertung, ein neuartiges klinisches Studiendesign und verschiedene regulatorische Flexibilitäten. Die Regulierungsbehörde versucht damit, sich der Industrie anzunähern und neue Wege zur Erleichterung der Innovation zu fördern. 

Die MHRA hat sich klar positioniert: , Es gibt keine Hindernisse für den Einsatz von RWE, um eine erste, schnelle Genehmigung für neue Produkte zu erhalten. Sie unterstreicht zwar die Bedeutung klassischer, robuster Daten aus RCTs, begrüßt aber die Nutzung von RWE zur Unterstützung von Versuchen und Studien für die Zulassung 6.

Beispiele für Vergütungen medizinischer Leistungen in Frankreich

In Frankreich ist eine ähnliche Entwicklung im Gange und wird bereits wissenschaftlich untersucht Interesse: In einer Studie von Radoszycki et al., 2020 zu den Empfehlungen des französischen Ausschusses für Gesundheitstechnologiebewertung (HTA) wird dabei die Entwicklung zweier Indikatoren hervorgehoben: Des tatsächliche klinische Nutzen (ACB) und der klinische Mehrwert (CAV). Beide werden zur Preisbestimmung und -erstattung verwendet.

RWE wird in Frankreich zudem zunehmend für HTAs angefordert. Das Fehlen standardisierter Methoden zur Entwicklung von RWE hat jedoch deren Einfluss auf die Entscheidungsfindung der Regulierungsbehörden untergraben. Es ist folglich nun von entscheidender Bedeutung, genauer zu definieren, wie die Erhebung, Analyse und Berichterstattung von RWE erfolgen sollte. Während die Vorteile der Verwendung von RWE feststehen, besteht ein Bedarf an einer standardisierten Erfassung, um die Regulierungsbehörden insgesamt zufrieden zu stellen. 

Auch in Fragen der praktischen Vergütung von Arzneimitteln spielt RWE in Frankreich eine Rolle: Die Assurance Maladie (die für die Finanzierung des Gesundheitswesens zuständige Behörde) führt regelmäßig Studien mit Real World Daten durch, um die Wirksamkeit eines Medikaments zu bewerten und dann Empfehlungen für die Verschreibung des billigeren Medikaments auszusprechen. Dies ist häufig der Fall bei Originalpräparaten und Generika, wie zum Beispiel bei Fragen zur Vergütung von Statinen. 7

Neue Wege bei Entscheidungen zur Vergütungen lassen sich anhand des Falles Roche/Genentech veranschaulichen – diese Firma entwickelt derzeit “personalisierte Erstattungsmodelle”. Ziel ist es, für bestimmte Krebsarten ein System zur Datenerhebung auf nationaler Ebene  zu schaffen. Die gesammelten Daten sind unterschiedlicher Art: RWD, epidemiologische und klinische Daten. Die Integration all dieser Daten ermöglicht dann ein tieferes Verständnis der Wirksamkeit eines Arzneimittels. 

Insbesondere bei Mitteln, die momentan im Rahmen von Chemotherapien verschrieben werden, wurden dabei RWD extrahiert. So wurde in Frankreich zum ersten Mal für ein Medikament für die Behandlung von nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (Tecentriq) ein personalisiertes Erstattungssystem  eingeführt. Bei unzureichendem Nutzen für den Patienten erstattet die zuständige Gesundheitsbehörde die Behandlung nicht, stattdessen werden die Kosten vollständig von der Industrie übernommen. Einzelheiten zu dieser Art von Verträgen zwischen Roche und dem Centre for European Policy Studies (CEPS) wurden jedoch nicht veröffentlicht 8.

Die Notwendigkeit von Einheitlichkeit, Infrastruktur und Rechtsvorschriften

RWE gilt als ein möglicher Baustein, um viele Probleme bei der Markteinführung eines Medikaments zu lösen – trotz der Probleme im Zusammenhang mit der Datenqualität und Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit. Außerdem kann die Verwendung von RWD geeignet sein, um den Wert eines neuen Medikaments gegenüber den Kostenträgern zu beweisen. Das kann dann zu einer schnelleren Zulassung, einer stabileren Faktenbasis und der Entwicklung flexibler Erstattungsvereinbarungen führen und bedeutet, dass die Patienten rechtzeitig Zugang zu neuen Medikamenten zu einem tragbaren Preis erhalten. Das Belegen des realen Nutzens neuartiger Arzneimittel ist daher der Schlüssel sowohl zu einem besseren Zugang für Patient:innen als auch zum Erfolg der Hersteller.

Es gibt eine Reihe von Anforderungen, um sicherzustellen, dass RWE in ganz Europa genutzt wird und sein Potenzial maximiert. So muss z.B. sichergestellt werden, dass  die IT-Systeme und die bestehenden Datenschnittstellen ausgereift sind. Zum anderen müssen bestehende Patientenregister optimiert werden und Exzellenzzentren für die Zusammenarbeit und/oder Übernahme von Daten entwickelt werden. Und letztlich ist im Besonderen ein Verständnis der aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen (Dateneigentum, -weitergabe, -freigabe und -vertraulichkeit) erforderlich, um sicherzustellen, dass RWE immer auf die korrekte Art verwendet wird. So können RWD und RWE zum Nutzen derjenigen beitragen, um die es im Gesundheitswesen gehen sollte – die Patient:innen 9.

Unsere Expert:innen für die Erfassung und Auswertung von Real World Data begleiten Sie gerne in den Deutschen Markt.