Veröffentlicht

May 16, 2021

Spondylodese – Wann lohnt sich die OP?

Eine Webseite prognostiziert mögliche Verbesserung auf Basis von PROMs

Egal ob in Familien, der Arbeit oder im Gespräch mit Freunden – Rückenbeschwerden, insbesondere im Verlauf der unteren Wirbelsäule, sind überall präsent. Faktisch sind Kreuzschmerzen (Lumbalgie) nicht nur in Deutschland, sondern der ganzen Welt ein großes Problem. Man schätzt, dass fast jeder zehnte Mensch (9,4%) weltweit darunter leidet – eine Tatsache, die nicht nur Patienten und Ärzte, sondern auch die Wirtschaft beschäftigt.1

Denn Kreuzschmerzen sind auch ein großer ökonomischer Faktor und gelten als eine der Hauptursachen für versäumte Arbeitstage.2-4  So stellt die DAK in ihrem Gesundheitsreport 2018 fest, dass jeder zwanzigste Arbeitnehmer in Deutschland mindestens einmal im Jahr wegen Rückenbeschwerden krankgeschrieben ist und dabei – hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung – rund 35 Millionen Ausfalltage entstehen. Nur akute Atemwegsinfekte verursachen noch mehr Ausfallzeiten.5

Warum ist das so?

Offensichtlich sind Wirbelsäulenschmerzen ein sehr komplexes Problem, da sie viele verschiedene Ursachen haben können. Nicht zuletzt psychische und soziale Probleme sind ein häufiger Grund für derartige Episoden. Befunde hingegen, die einer Bildgebung oder chirurgischen Intervention bedürfen, machen nur einen geringen Anteil aller Fälle aus. Und selbst wenn man beispielsweise im MRT einen ersten unkomplizierten Bandscheibenvorfall sieht, ist nicht gesichert, ob dieser auch für den aktuellen Schmerz verantwortlich ist.

Insgesamt gilt: für ca. 85% aller Rückenschmerzen wird keine Ursache gefunden. Sie werden konservativ, also mit Physiotherapie, Kräftigungsübungen, Psychoedukation etc. behandelt. Erst wenn Kreuzschmerzen länger als vier bis sechs Wochen anhalten oder bestimmte Warnhinweise („red flags“) präsent sind, sollte eine weitere Abklärung erfolgen.6 Unabhängig vom Grund der Schmerzen, haben diese ein hohes Chronifizierungsrisiko, was langfristig bis zu einer Behinderung und Arbeitsunfähigkeit führen kann.

Red Flags bei Kreuzschmerzen (Quelle: Ärzteblatt)7
Die Mehrheit der Fälle von Rückenschmerzen reagiert auf einfache physikalische und psychologische Therapien, die Menschen aktiv halten und ihnen ermöglichen, am Arbeitsplatz zu bleiben
Prof. Rachelle Buchbinder (Monash University, Australien) (8)

Dass in vielen Fällen bildgebende Methoden bzw. ein chirurgischer Eingriff zunächst ausbleiben oder später ergebnislos sind, ist für viele Patienten bei anhaltenden Schmerzen schwer zu akzeptieren. Sie suchen weitere Ärzte auf, holen Zweit-, Dritt- und Viertmeinungen, bis doch jemand einen Eingriff vornimmt, der dann wahrscheinlich nicht das gewünschte Ergebnis erzielt und weitere nach sich zieht.

Problemfall Spondylodese

Eine dieser in letzter Zeit zunehmend durchgeführten Operationen ist die sogenannte Wirbelsäulenversteifung (Spondylodese). Auch hier gilt: sie wird zu oft und zu unreflektiert durchgeführt. Eine vergleichsweise hohe Vergütung macht das zusätzlich attraktiv.9,10 Bei reinen Kreuzschmerzen ist die OP allerdings umstritten, in Australien sogar auf der „Don’t do List“ der Faculty of Pain Medicine (FPM) of the Australian and New Zealand College of Anaesthetists (ANZCA).11
Es gibt auf den ersten Blick zumindest keine gemeinsame Linie bei der Entscheidung: wann wird operiert?

Spondylodese auf einen Blick

Wann (Indikation)? Die Spondylodese ist bei verschiedensten Krankheitsbildern indiziert (z.B.: Notfälle, degenerative Prozesse, strukturelle Probleme, spinale Instabilität…), nicht jedoch bei unkomplizierter Spinalkanalstenose, einem ersten Bandscheibenvorfall oder chronischen Rückenschmerzen ohne bildliches Korrelat.12

Was wird gemacht? Ein Wirbelsäulenabschnitt wird über Versteifung oder Fusion mehrerer Wirbel durch Schrauben, Platten oder interne Fixateure stabilisiert.

Was ist die aktuelle Empfehlung? Leitliniengerecht sollte erst dann operiert werden, wenn ein „spezifischer Kreuzschmerz“ – also Kreuzschmerz mit benennbarer und darstellbarer Ursache vorliegt. Bei richtiger Indikationsstellung ist eine Operation dann auch sinnvoll.6

Ein Vorhersagemodell durch Patient Reported Outcomes

Im Lichte dieses Problems wurde im Juli 2018 eine amerikanische Studie im renommierten JAMA Journal veröffentlicht. Auf Basis von PROMs (Patient Reported Outcome Measures) haben die Autoren ein Vorhersagemodell entwickelt, welches Patienten, die für eine Spondylodese in Frage kommen, eine Besserungsprognose für ihre Schmerzsymptome und körperlichen Einschränkungen (erfasst über PROMs wie bspw. visuelle Analogskalen (VAS) für Schmerzen) ein Jahr nach Operation errechnet.
Zwischen 2012 und 2016 rekrutierten Sara Khor et al. dafür 1965 Spondylodese Patienten in 15 Krankenhäusern. Diese sollten im Verlauf Fragebögen (Oswestry Disability Index (ODI) Score, VAS zu Rücken- und Beinschmerzen) vor und spätestens drei Jahre nach ihrer OP ausfüllen.13

Die Ergebnisse wurden dann in eine öffentlich zugängliche Website eingespeist.14 Hier kann man zutreffende Items aus den o.g. Fragebögen ankreuzen und sieht dann im Ergebnisteil farblich codierte, prozentuale Wahrscheinlichkeiten zur prognostizierten Verbesserung von Körperfunktion, Rücken- und Beinschmerz ein Jahr nach OP.

Quelle: Lumbar Fusion Calculator (14)

Sinnvolle Ergänzung mit Perspektive

Natürlich wird eine solche App niemals in der Lage sein, den klinischen Blick eines spezialisierten Arztes zu ersetzen. Sie kann verunsicherten Patienten aber Sicherheit geben und ist eine gute Illustrationsmöglichkeit für Ärzte, um im Gespräch Chancen und Risiken einer etwaigen Spondylodese aufzuzeigen. Langfristig könnten derartige Konzepte sicher ein Puzzleteil in der Lösung des Problems von Mehrfachdiagnosen, „Ärztehopping“, unnötigen Operationen etc. werden.

Der Ansatz eines patientenzentrierten Gesundheitswesens nach dem Value Based Healthcare Konzept, das sich vermehrt über PROMs, also subjektive Angaben des Patienten, kontrolliert, ist aber in jedem Fall der richtige und zunehmend angewandte Schritt hin zu transparenteren Entscheidungsfindungen sowie einer besseren Versorgung und Prävention – nicht nur von (chronischen) Rückenschmerzpatienten.

PROMs are precisely the missing link in defining a good outcome. They capture quality-of-life issues that are the very reasons that most patients seek care.
Neil W. Wagle, MD (Partners HealthCare; Brigham and Women’s Hospital) (15)

Im Sinne eines multimodalen Therapiekonzeptes nach den Konzepten von Value-based Healthcare erfassen PROMs das individuelle Wohlbefinden und das jeweilige Hauptproblem des Patienten als Ganzes, bleiben aber aufgrund der zunehmenden Einführung standardisierter Fragebögen vergleichbar – ein unerlässliches Feature in der modernen Medizin.15