Veröffentlicht

May 15, 2021

Gesundheitssystem in England und Deutschland im Vergleich

Was ist besser, das britische NHS mit ihrem Beveridge-Modell oder das deutsche Bismarck-Modell?

Großbritannien steht seit dem Volksentscheid zum Brexit im Juni 2016 vor großen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen mit gewaltiger gesellschaftlicher Tragweite. Banken, Unternehmen und selbst EU-Bürger, die in Großbritannien gearbeitet haben, verlißen teilweise das Land. Darüber hinaus verlor London als Finanzzentrum nicht nur die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) sondern auch die Europäische Arzneimittelaufsichtsbehörde (EMA).

Wie steht es also um das Gesundheitssystem in England?

Derzeit leben 65,6 Millionen Menschen im Vereinigten Königreich (England, Schottland, Wales und Nordirland). Unter ihnen gibt es ca. 236.836 lizenzierte Ärzte, womit auf einen Arzt aktuell 277 Briten kommen.1,2 Die Gesamtausgaben des britischen Gesundheitssystems beliefen sich 2015 auf 251,2 Milliarden Euro (9,9% des BIP), dementsprechend bei damaliger Einwohnerzahl etwa 3856,9€/Einwohner.3 In Deutschland gibt es bei einer Bevölkerung von ca. 82,2 Millionen Menschen ca. 378.607 Ärzte, sodass wir pro Arzt auf etwa 217 Einwohner/Arzt kommen.4,5 Hier lagen die Gesamtausgaben 2015 bei 344,2 Milliarden Euro (11,3% des BIP), wodurch wir 4187,4€/Einwohner ausgegeben haben.6

Somit generiert Großbritanniens Gesundheitswesen 7,9% weniger Kosten als das Deutsche, bei Hochrechnung der Einwohnerzahlen folglich ca. 27,2 Milliarden Euro weniger. Das entspricht fast entweder 9% des Bundeshaushaltes, den gesamten Jahresausgaben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur oder den gesamten Personalausgaben des Bundes von 2015.7

Wie ist das britische Gesundheitswesen aufgebaut?

Das britische Gesundheitssystem basiert auf der Grundidee des Wohlfahrtsstaates des britischen Parlamentariers William Beveridge. Demzufolge wird die öffentliche Gesundheitsversorgung der gesamten Bevölkerung von Steuern finanziert, sodass fast alle medizinischen Leistungen für alle Einwohner kostenlos sind. Ausgenommen sind Medikamente, Behandlungen beim Augenoptiker und zahnmedizinische Leistungen. Es gibt jedoch Erkrankungen, für deren Behandlung Medikamente kostenlos sind, wie beispielsweise Diabetes mellitus, Schilddrüsenunterfunktion oder Tumorerkrankungen.11

Das deutsche Gesundheitssystem basiert wiederum auf Bismarcks Modell der Sozialversicherungen, in dem einkommensabhängig regelmäßige Beiträge an Krankenversicherungen zu zahlen sind. Diese Krankenversicherungen erstatten dann im Krankheitsfall Leistungen, die versichert sind.

Gegenüberstellung des deutschen Bismarck-Modells und des britischen Beveridge-Modells (Schmidt, Alfons, S.89 ,2002)

Seit seiner Gründung im Jahr 1948 stellt der National Health Service (NHS) das öffentliche, staatliche Gesundheitssystem dar. Der Großteil des Personals des Gesundheitswesens ist bei ihm angestellt (z.B. Ärzte, Pfleger o. technisches Personal) und umfasst über 1,5 Millionen Mitarbeiter.11 Er gehört damit zu den fünf größten Arbeitgebern der Welt.12

In Großbritannien gibt es, anders als in Deutschland, keine gesetzlichen Krankenversicherungen. Die Abrechnung der Kosten des Gesundheitssystems übernimmt der NHS. Er ist daher auch für die Kostenstruktur verantwortlich. Eine Behandlung außerhalb des NHS ist zwar möglich, erfordert allerdings eine private Krankenversicherung oder eigenständige Zahlung der Kosten. 2015 wurden 79,5% der Gesundheitsausgaben in Großbritannien vom NHS, d.h. staatlich getragen, während die restlichen 20,5% privat gezahlt wurden.3

Die Struktur des ambulanten und klinischen Systems ist in Großbritannien ebenfalls anders aufgebaut. Allgemeinärzte übernehmen die hausärztliche Versorgung und können Patienten zu Fachärzten überweisen. Die ambulante fachärztliche Versorgung findet allerdings, neben der stationären Versorgung, lediglich in Kliniken statt. Die Patienten haben ausschließlich im Rahmen von Notfällen die Möglichkeit Kliniken direkt zu besuchen. Andernfalls sieht es das System vor, immer zuerst einen Allgemeinarzt aufsuchen zu müssen, der über das weitere Vorgehen entscheidet.

Wodurch entsteht nun der Kostenunterschied von 27,2 Milliarden Euro?

Zunächst muss man die niedrigere Zahl an Ärzten in Großbritannien betrachten, da diese mit 3,6 Ärzten pro 1000 Einwohner wesentlich geringer ist als in Deutschland mit 4,6 pro 1000 Einwohner. Hochgerechnet läge die zusätzliche finanzielle Belastung von 82.200 Ärzten für Großbritannien bei bspw. (zu hoch) geschätztem Durchschnittsgehalt von 100.000€/Jahr bei 8,2 Milliarden Euro. Dementsprechend nicht genug, um die Differenz ausreichend erklären zu können.

Darüber hinaus ist die Annahme, dass Großbritannien eine so hohe Zahl zusätzlicher Ärzte benötige, um sein System in gewünschter Qualität fortführen zu können, unrealistisch. Schließlich lag die Lebenserwartung 2015 bei 82 Jahren und war somit höher als die Deutschlands mit nur 81 Jahren.8 Dies indiziert, dass das Gesundheitssystem womöglich nicht nur günstiger sondern auch besser sein könnte.

Zu guter Letzt ist ein möglicher ausschlaggebender Grund jedoch der signifikante Unterschied in der Altersstruktur beider Länder. Die Bevölkerung Großbritanniens hatte 2015 ein medianes Alter von 40,2 Jahren, d.h. 50% der Bevölkerung war jünger und 50% älter als 40,2 Jahre. Die Bevölkerung Deutschlands hingegen hatte ein medianes Alter von 45,9 Jahren. Die Gesundheitsausgaben steigen mit zunehmenden Alter immer stärker an, da sich im Alter häufiger Erkrankungen manifestieren und man gegenüber Störeinflüssen anfälliger ist. So nimmt nicht nur auf mikroskopischer Ebene das Zellwachstum oder die Zellregeneration ab, sondern verschlechtert sich auch makroskopisch unsere Organfunktion. Auch Knochenbrüche und Begleitverletzungen nehmen bei zunehmender Immobilität, geschwächtem muskuloskelletalem System und erhöhter Sturzneigung zu. Dies führt in der Gesamtheit zu häufigeren notwendigen Therapien mit häufigeren Krankenhausaufenthalten, verbunden mit erheblich höheren Kosten.

Eine Studie hat beispielsweise 2004 gezeigt, dass in ihrer Studienkohorte etwa 33% der Gesundheitskosten eines gesamten Lebens im mittleren Alter und 50% der Kosten im Seniorenalter entstanden sind.9

Verbleibende Gesundheitskosten pro Person innerhalb ihrer Lebenszeit. Männer jeweils angepasst oder nicht angepasst an die längere Lebenserwartung und damit Lebenszeit von Frauen. Der Wert des Dollar bezieht sich auf das Jahr 2000.9

Fazit

Vorerst muss gesagt sein, dass wir für die Berechnung und Argumentation ein stark vereinfachtes Modell verwendet haben und nur wenige beeinflussende Faktoren in diesem Artikel berücksichtigen konnten. Dies führt zwar zu Ungenauigkeiten, reicht aber insgesamt für eine grobe übersichtsgebende Betrachtung dieser Gesundheitssysteme aus.

Letztlich relativiert sich unserer Ansicht nach der aktuelle Kostenvorteil des britischen Gesundheitssystems bei Betrachtung des medianen Alters der Bevölkerung, da dies wahrscheinlich ein wichtiger Hauptgrund des Kostenunterschiedes ist.  Obwohl sich die Gesundheitssysteme von Deutschland und Großbritannien von Grund auf unterscheiden, bieten sie jedoch beide eine weltweit anerkannte hohe Qualität und stehen vor den gleichen Herausforderungen in der Zukunft: Stetig steigende Kosten bei mangelhaften Ressourcen.