08.05.2020
Kommt die Digitalisierung endlich im Gesundheitssystem an?
Anfang April berichtete das renommierte Fachmagazin Nature von einem Virus im Kongo, welches in letzter Zeit bereits über 6.500 Kinder getötet habe. Dabei geht es in erster Linie jedoch nicht um Corona. Vielmehr handelt der Bericht vom Kampf Afrikas gegen das Masernvirus, welches dort besonders verheerend wütet. Mit Massenimpfungen konnte die Ausbreitung des Virus zunehmend kontrolliert werden. Seit jedoch die Strategic Advisory Group of Experts on Immunization (SAGE) der WHO Ende März aufgrund von Corona einen temporären Stopp präventiver Impfkampagnen empfahl, befürchten Experten angesichts von mindestens 78 Millionen jetzt ungeimpfter Kindern einen erneuten Anstieg der Infektionen.
Auch das besser versorgte Europa hat Probleme. Beispielsweise warnen Public Health Experten im österreichischen “der Standard” vor “medizinischen Kollateralschäden”. Es gebe derzeit eine große Menge an Patienten, die nicht gut versorgt würden. Das Corona Virus schadet den Menschen somit auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Dafür muss es sie nicht einmal infizieren.
Covid-19 hat Gesundheitssysteme, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland und der Welt in wenigen Monaten auf den Kopf gestellt. Im aktuellen Diskurs stehen vor allem gesundheitliche Folgen des Virus sowie dessen sozioökonomische Konsequenzen im Vordergrund. Vergessen werden dabei aus Mangel an Zahlen oft die medizinischen Nebenwirkungen der Krise. Während möglichst viele Ressourcen für die Versorgung von Menschen mit Corona mobilisiert werden, legen andere Notfälle und chronisch erkrankte Patienten nicht einfach eine Pause ein.
Die medizinischen Kollateralschäden entstehen auf unterschiedlichen Wegen: Grundsätzlich haben chronisch kranke Menschen ein höheres Risiko für schwere Verläufe im Falle einer Corona Infektion. Durch die verschärften Hygienemaßnahmen fallen für dieses Patientenkollektiv aber auch viele Routinetermine aus. Ein eingeschränkter Zugang zu Fachärzten und Krankenhäusern aufgrund strengerer Aufnahmekriterien, weniger persönliche Hausarztkontakte sowie eine deutlich erschwerte (ambulante) Pflege beeinträchtigen die Versorgung. Das kann langfristig zu einer erhöhten Morbidität und Mortalität führen. Eine Sonderrolle nehmen krebskranke PatientInnen ein. Auch hier werden aus Sicherheitsgründen Behandlungstermine verschoben. In einer Nachricht an Gesundheitsminister Spahn warnt die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) explizit vor einer Gefahr durch “Metastasierung eines Tumorleidens auf der Warteliste“.
Die zusätzliche Belastung durch Angst und Isolation erhöht außerdem die psychische Morbidität. Aktuelle Zahlen aus China bestätigen bereits, was man aus ähnlichen Situationen in der Vergangenheit weiß.1 Als besonders problematisch schätzt die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) aber die Lage bei Notfällen ein. Deutschlandweit berichten Krankenhäuser von auffallend weniger PatientInnen, welche mit Schlaganfällen oder Herzinfarkten in die Kliniken kommen. Es gäbe Patienten, die aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Corona Virus von einem Klinikaufenthalt absehen würden. Eine chinesische Studie zeigt beispielsweise, dass so die Therapie von ST-Hebungsinfarkten leidet.2 Die Autoren beobachten seit Corona eine verlängerte Zeit von Symptombeginn bis zum medizinischer Kontakt und der adäquaten Therapie.
Trotz allem scheint die akute Krise in Deutschland beherrscht. Kissler et al. prognostizieren im renommierten Magazin “Science” jedoch, dass es bis spätestens 2025 weitere Corona Ausbrüche geben wird.3 Wie also lassen sich Krisenmanagement zukünftig verbessern und all die Kollateralschäden verhindern?
In Deutschland strebt man zunehmend ein “südkoreanisches Modell” an. Das Land hat bereits, geprägt durch die Sars und Mers Epidemien, Erfahrung gesammelt und die Ausbreitung von Corona früh effizient bekämpft. Hauptgründe für die stark rückläufige Verbreitung des Virus sind hohe Testfrequenzen und der Einsatz digitaler Technologien.
Digitale Anwendungen können die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 sinnvoll ergänzen. Die Pandemie hat in dieser Hinsicht die Integration digitaler Lösungen ins Gesundheitssystem enorm beschleunigt und neue Diskussionen über Regulierung und Sicherheitsstandards begünstigt. Remote Monitoring, telemedizinische Beratungen, Apps zur Triagierung oder Patientenedukation wurden vielfach erfolgreich angewendet, um die Überlastung medizinischer Versorgung vor Ort zu kompensieren.
Verschiedene Applikationen erlauben beispielsweise eine Selbsteinschätzung der Wahrscheinlichkeit, an Corona zu erkranken und entlasten so Notaufnahmen und Informationsstellen. Die App ifightdepression erreichte größere Bekanntheit, nachdem sie frei zugänglich gemacht wurde, da Hausärzte und Psychotherapeuten an ihre Belastungsgrenzen stießen. Auch die Exit-Strategie der Bundesregierung sieht eine datenschutzkonforme Tracing-App vor, um eine schrittweise Lockerung der aktuellen Beschränkungen umsetzen zu können.
Wenn man über die jetzige Krisensituation hinausblickt, ist eine Bewertung und Neustrukturierung der Art wie wir Patientenversorgung denken unabdingbar. Die Erfahrung mit Corona lehrt uns, dass digitale Lösungen angesichts unseres chronisch überlasteten Gesundheitssystems unverzichtbar sind, um die Folgen einer Überschreitung vorhandener Kapazitäten zu minimieren. Zudem besteht die Chance, bisher unvollständige Feedback-loops zwischen Arzt und Patienten digital zu unterstützen. Gerade weil Experten davon ausgehen, dass erneute Pandemien und all ihren Folgen wahrscheinlich sind, ist eine Ergänzung der Versorgungsstrukturen durch Telemedizin kein utopisches Ziel mehr, sondern eine Notwendigkeit.